Samstag, 9. Juli 2016

Ist es schlimm, Doktor?

Hoffnungsvoll halten wir dem Spezialisten unsere Probleme hin: Unser Hab und Gut, unsere Körper noch bevor sie krank werden, unsere Ängste und Sorgen, unsere Leben. Wir lassen uns versorgen, versichern, durchleuchten, behandeln, ernähren. Wir lassen machen. Wir suchen uns die Packungen aus, von denen andere entschieden haben, was drin ist. Alles ist so kompliziert geworden. Wir durchschauen es gar nicht mehr so recht. Aber es wird schon richtig sein. Schließlich gibt es ja jede Menge Regeln und Verordnungen, die uns die Qualität dessen, was wir täglich konsumieren, garantieren sollen. 

Doch etwas stimmt nicht. Es wird zwar immer noch behauptet, dass die Lebenserwartung der Menschen in den reichen Ländern weiter steigt, aber irgendwie gibt es auch immer mehr Krankheiten und ganz neue Epidemien, die man überhaupt nicht in den Griff kriegt. Verschmutzte und ausgelaugte Böden, ungenießbares Wasser und Luft mit so vielen giftigen Partikeln darin, dass Hunderttausende auch bei uns daran zugrunde gehen, diskret, in speziell dafür vorgesehen Einrichtungen. Solange es uns nicht direkt trifft, mögen wir uns keine unbequemen Fragen stellen. Und wenn es uns dann auch erwischt, trösten wir uns damit, dass immer neue Spezialisten die Verantwortung für unser Heil übernehmen können und suchen Beistand von Leidensgenossen, die wir meist nur virtuell kennen lernen. Ändern können wir sowieso nichts. Oder?

Uns sind die Hände gebunden. Was sollten wir auch tun in dieser technisch hervorragend ausgerüsteten Welt, in der jeder mit seinen jeweiligen Bildschirmen lebt, der es jedoch an Zwischenmenschlichkeit fehlt? So sind die Menschen eben. Man muss sich vor ihnen in Acht nehmen. Einer ist immer des anderen Wolf. Doch wer sind denn in unserer Welt eigentlich die Wölfe? Die anderen, das ist klar. Wir selber machen ja nur unseren Job und können schließlich auch nichts dafür. Es sind die Fremden, die Zugereisten, die Jungen. Randalierer, Terroristen, Dunkelhäutige. So zumindest behaupten es jene, die von dem Keil zwischen den Menschen profitieren. Und folgen ihnen. Wir lassen uns aufhetzen und anstacheln, anstatt auf die anderen zuzugehen und sie zu fragen, wer sie eigentlich sind. 

Wie lange wollen wir noch damit warten, endlich bei uns selber nach den Lösungen für unsere Probleme zu suchen? Wie lange halten wir noch anderen den Arm hin oder die Faust entgegen? Wann machen wir uns die Hände frei von all den Gadgets, die man uns zuwirft, um uns bei Laune und folgsam zu halten? Niemand, der heute den Blick auch nur ansatzweise hebt kann behaupten, von den Missständen unserer Welt nichts gewusst zu haben. Niemand kann sich hinter den anderen verstecken. Er wird dazu stehen müssen, nur an seine eigene Bequemlichkeit gedacht zu haben. Er wird in den Spiegel blicken müssen und erkennen, dass nicht die anderen die Täter sind, auf die er bisher mit dem Finger gezeigt hat, sondern er selber. 

Früher oder später werden wir alle damit konfrontiert werden, dass wir, jeder einzelne von uns, diese Welt so gestaltet haben, wie sie heute ist. In dem Augenblick, in dem wir das begreifen, zerreißen die Schleier vor unseren Augen. Wir werden nichts von dem, was wir geschehen lassen haben, wieder gut machen können. Was zerstört ist, ist zerstört. Doch wir können uns mit Respekt verbeugen und um Verzeihung dafür bitten, was wir uns, den anderen und dem Planeten angetan haben. Wir können unsere Herzen öffnen und dieser Erde, der Mutter Erde, die uns alle nährt und uns allen gehört, das Wertvollste und Größte schenken, was wir zu geben haben: Unsere Achtung. Von dieser Sekunde an wird die Welt eine andere sein.