Die wilde Göttin

Lilith: Göttin, Dämonin, Femme fatale, schwarze Muse, Inbegriff der emanzipierten Frau. Kein Wesen der jüdisch-christlichen Mythologie wird so konträr rezipiert wie die rebellische Vorgängerin Evas. Die erste Frau des Menschen entsprang nicht einer Rippe, sondern demselben Schoss wie der Mann. Lilith war Adam ebenbürtig. Sie repräsentiert die wilde, authentische, ursprüngliche weibliche Kraft, eine gleichzeitig erdverbundene und kosmische Schöpferenergie, die sich der männlichen Vorherrschaft nicht unterwerfen will. Im Bewusstsein ihrer göttlichen Abstammung hat sie es gewagt, ein zu eng gewordenes Paradies zu verlassen. Die höchsten Strafen hat sie sich auferlegen lassen. Lange wirkte sie im Verborgenen. Sie soll es gewesen sein, die Eva den Apfel reichte. Heute überreicht sie ihn uns, den kulturellen Nachkommen Evas, und fragt uns, wie wir leben wollen. Was wollen wir wirklich? Schonungslos fordert sie uns in diesem Schlüsselmoment unserer Geschichte dazu auf, ehrlich gegenüber uns selbst zu sein und uns den Traumata zu stellen, die 6.000 Jahre Patriarchat mit sich gebracht haben. 

Es gibt tiefe Schatten zu durchqueren, bevor Frau und Mann erneut auf Augenhöhe zusammenfinden können. Sie werden in ihren Schmerz hinein spüren müssen, bevor sie einander in einem neuen Vertrauen begegnen können. Sie werden mit ihrer Eifersucht konfrontiert werden, mit ihrem Neid und der Angst vor dem Alleinsein. Doch wenn sie sich auf dieses Wagnis einlassen, können beide, Mann und Frau, die Schöpferkraft wiederfinden, die ihnen am Anfang geschenkt wurde. Wenn das Wilde und das Heilige in uns zusammenfinden, steht uns eine Kraft zur Verfügung, die die zerstörerische Matrix der vergangenen Jahrtausende wie eine Blase zerplatzen lässt, um erneut die Fürsorge in das Zentrum des Lebens zu stellen. Wir dürfen darauf vertrauen, dass es gelingt. Die wegweisende weibliche Kraft bringt die Zuversicht einer Mutter zurück, die spürt, wie das neue Leben in ihr heranwächst. Lange bevor es sichtbar wird, weiß sie, dass die Saat aufgegangen ist.