Dienstag, 11. Dezember 2018

Das Blatt, das nicht vom Baum fallen wollte

Herbst war da. Die kühlen morgendlichen Nebel hoben sich immer später, um einer fahlen Sonne Platz zu machen. Der Duft von Rauch lag in der Luft und füllte sie mit einer Ahnung von langen Abenden am Feuer und einsamer Zurückgezogenheit. Langsam nahm das Blattwerk der Bäume die Farben der Glut an: flammendes Rot, strahlendes Gelb, warmes Orange.

Die majestätische Linde mit der herzförmigen Krone neben der Kirche ließ die Blätter los, die sie während der warmen Jahreszeit bewohnt hatten, und schickte sie auf Reisen. Eines nach dem anderen segelte hinab ins Ungewisse. 

Alle, nur eines nicht. Jedes Mal, wenn der Wind blies, klammerte es sich mit wachsender Verzweiflung an seinen Ast. Es zitterte, es erschauderte, und es wurde nicht müde, sich zu wiederholen: Hoffentlich hält es! Hoffentlich falle ich nicht!

Es konnte an gar nichts anderes mehr denken! Es sah nicht, wie sich die Vögel für die große Reise in den Süden versammelten. Es spürte nicht die sanfte Brise der letzten wärmenden Tage und das tröstende Streicheln der Sonnenstrahlen. Es hörte nicht das Summen der späten Insekten, die um die Sonne herumtanzten. 

Während der Regentage, an denen die Blätter schwer und glänzend wurden, erbebte es ängstlich an seinem Lebensfaden, von dem es spürte, dass er immer dünner wurde. Es fürchtete die Tage des Windes, die es trockneten und noch verletzlicher machten. Beim leisesten Hauch fühlte es sich von Panik ergriffen und beobachtete, wie seine letzten Nachbarn nach und nach verschwanden und den Blick auf ein skelettähnliches Astwerk freigaben.

Immer kahler stand die Linde da. Von der herzförmigen Krone war nichts mehr zu erkennen als ein paar starre Äste, die wie gekrümmte Finger in die Leere des Himmels ragten. Welch’ ein Unglück! Was für ein Trauerspiel! Eine ganze Generation fiel hinab ins Leere. Das Blatt, das nicht vom Baum fallen wollte, blieb alleine und auf sich selbst zurückgeworfen zurück, blass, vertrocknet und all dem entrissen, was es einst mit Leben erfüllt hatte.

Es erinnerte sich an die schier unendlichen und unbeschwerten Tage und die süßen und sternklaren Nächte. Das Leben war Abenteuer, Tanz, Entdecken! Jeder Tag brachte Neues: Begegnungen, Düfte, Lieder. Um es herum summte das Leben und schien grenzenlos. Mit Weh dachte es an seine frische und überschäumende Jugend. Wasser und Leben flossen in seinen Adern und gaben ihm volle und verführerische Formen. Fröhlich flatterte es neben seinen Nachbarn in der schwindelerregenden Höhe seines Baumes, atmete den sinnlichen Duft des Sommers und sang mit ihnen das ausgelassene Lied der Freiheit und der Freude.

Am Anfang merkte es gar nicht, dass die Tage kürzer wurden und die Nächte länger. Unbeschwert ließ es sich weiter von den Sonnenstrahlen liebkosen und vom Wind wiegen. Aber die sanften Brisen wurden zu Stürmen und es spürte, wie etwas in ihm anfing nachzugeben. Als es sah, wie seine Nachbarn begannen, sich von den Ästen zu lösen, konnte es nicht glauben, dass die Dinge dabei waren, sich zu ändern. Das Leben war so groß gewesen! Doch sein Bedauern, sein Kummer und all seine Erinnerungen hielten es nicht davon ab zu spüren, dass das Ende nahte.

Das Ende? In Wirklichkeit wusste es nicht, was es erwartete. Es kannte ja nichts als seinen Ast und seine Nachbarn, den Flug der Insekten und das Singen der Vögel, die Brise des Windes und das Strahlen der Sterne und Planeten. Gab es etwas anders? Gab es ein Leben außerhalb der Baumkrone, jenseits der Leere um es herum? 

Es fühlte sich zunehmend schwach, einsam, verlassen, ohne Hoffnung. Schließlich gab es nach. Eines Morgens trennte der Wind das zarte Band, das es noch an seinem Ast hielt. Es begann seinen Segelflug in die Tiefe, seltsam überrascht von der Leichtigkeit, die es dabei fühlte. Kein Kampf mehr, kein Festklammern, kein Weh, keine Angst. Nichts blieb mehr. Nichts? 

Es konnte sich nicht mehr bewegen. In seinen leeren Adern floss kein Lebenssaft mehr. Doch etwas blieb. Wie von einem wohlmeinenden Hauch fühlte es sich umhüllt. Sanft trug er es zu Boden und setzte es dort ab. Hier wurde das Blatt gewahr, dass es nicht alleine war. Um es herum erkannte es seine Nachbarn und noch viele mehr. Alle zusammen waren sie vereint und bildeten eine dichte und weiche Blätterschicht. 

Es war nicht mehr ein lebendiges Blatt, doch es war noch da. Mit allen anderen zusammen bedeckte es die Pflanzen des Bodens und schützte sie gegen die einbrechende Kälte des Winters. Es war sie alle. Es hatte seinen Baum verlassen, um Teil eines neuen Gesamten zu werden. Langsam, ganz langsam, verwandelte es sich in Kompost, Humus, Boden. Es wurde Erde. Es war nahrhafter Boden, die Wiege für Millionen verschiedene Lebewesen. Es war Blatt und nicht Blatt, Erde und nicht Erde zugleich. Es ließ sich durchdringen, zerteilen und neu zusammensetzen.

Jenseits der körperlichen Formen spürte es ein sanftes Beben, ein leises Erzittern, eine Folge kleiner Explosionen. Etwas zog es nach oben. Es durchdrang den Boden, angezogen von einem unbekannten Licht, das ihm seltsam vertraut vorkam. Und in dem Augenblick, in dem es aus seiner friedlichen und dunklen Geborgenheit heraustrat, erkannte es: die Sonne!

Es jubelte, es dehnte sich, es breitete sich aus, es wuchs ihr entgegen. Immer kräftiger wurde sein Stamm. Seine Äste strebten in den Himmel und es spürte, wie sich Millionen kleiner, frischer grüner Blätter auf ihm entfalteten. Es fühlte ihre Ekstase, ihren Tanz, ihr fröhliches Flüstern, und es erfreute sich daran. Ihm gegenüber, neben der Kirche, erblickte es eine majestätische Linde mit einer herzförmigen Krone. Es grüßte sie, vom Wunder erfasst.

Eine Erzählung aus La feuille qui ne voulait pas tomber de l'arbre, BoD 2018