Sonntag, 24. Februar 2019

Die Charta des Landwirts, Umweltschützers und Philosophen Pierre Rabhi

Was für einen Planeten hinterlassen wir unseren Kindern? Welche Kinder hinterlassen wir auf unserem Planeten?

Bis zum heutigen Tag ist die Erde die einzige uns bekannte Oase des Lebens inmitten einer gigantischen Wüste. Für sie Sorge tragen, ihre physikalische und biologische Integrität respektieren, ihre Ressourcen moderat nutzen, Frieden und Solidarität unter den Menschen fördern und dabei alle Lebensformen berücksichtigen ist das gleichzeitig realistischste und wundervollste Projekt, das es gibt.

Feststellung

Erde und Menschheit sind bedroht.

Das Desaster einer chemiebasierten Landwirtschaft

Die Industrialisierung der Landwirtschaft, der massive Gebrauch von chemischen Düngern, Pestiziden und genverändertem Saatgut sowie eine exzessive Mechanisierung haben die uns nährende Erde und die landwirtschaftliche Kultur stark geschädigt. Da es in diesem System nicht möglich ist, zu produzieren ohne zu zerstören, setzen wir uns der Gefahr beispielloser Hungersnöte aus.

Humanitäre Hilfe anstelle von Humanismus

Obwohl die natürlichen Ressourcen heute ausreichen würden, die Grundbedürfnisse aller zu erfüllen, wachsen Knappheit und Armut. Aufgrund der Tatsache, dass unsere Welt nicht auf Humanismus, gerechte Verteilung, Austausch und Solidarität aufgebaut ist, begnügen wir uns mit palliativen humanitären Maßnahmen. Die Logik Brandstifter – Feuerwehr ist zur Norm geworden.

Unterbrochene Verbindung zwischen Mensch und Natur

Die vor allem in den Städten konzentrierte Moderne hat eine bodenferne, von den Realitäten und den Rhythmen der Natur abgetrennte Zivilisation aufgebaut, die die Lebensbedingungen für den Menschen verschlechtern und die Zerstörung der Natur zunehmend voranschreiten lassen.

Der Mythos des unbegrenzten Wachstums

Das industrielle produktivistische Wirtschaftsmodell der modernen Zivilisation stützt sich auf die Ideologie des „Immer mehr“ und die Jagd nach unbegrenztem Profit in einer begrenzten Welt. Der Zugang zu den Ressourcen erfolgt über Raub, Konkurrenz und wirtschaftliche Kriege unter Individuen. Das von zur Neige gehenden fossilen Brennstoffen abhängige Modell ist ohne Zukunft.


Alle Macht dem Geld

Das Geld, mit dem BIP das einzige Mass für den Wohlstand der Nationen, bestimmt das Schicksal des Kollektivs. Das, was nicht monetär aufgewogen werden kann, hat keinen Wert. Jedes Individuum ohne Einkommen ist sozial abgestempelt. Doch auch wenn Geld materielle Wünsche erfüllt, kann man Freude und Glück nicht kaufen.

Vorschläge

Leben und für das Lebendige Sorge tragen.

Die Utopie verkörpern

Die Utopie ist nicht die Chimäre, sondern der fehlende Raum für das Mögliche. Angesichts der Grenzen und Sackgassen unseres Existenzmodells ist die Utopie ein Lebensanstoß, der das möglich machen kann, was für unmöglich gehalten wird. In den Utopien von heute finden sich die Lösungen für morgen. Die erste Utopie ist, uns selbst zu inkarnieren, voll und ganz in unseren Körpern zu sein, denn der soziale Wandel geschieht nicht ohne den inneren Wandel der Menschen.

Glückliche Genügsamkeit

Die Genügsamkeit ist gegenüber dem „Immer mehr“, das zum Profit einiger weniger den Planeten zerstört, eine bewusste und vom Verstand inspirierte Entscheidung. Sie ist gleichzeitig Kunst und Ethik des Lebens, Quelle der Zufriedenheit und des tiefen Wohlbefindens. Sie ist eine politische Haltung, ein Akt des Widerstandes im Sinne des Lebens auf der Erde, der Gemeinsamkeit und der sozialen Gerechtigkeit.

Das Weibliche im Zentrum des Wandels

Die Unterordnung der Frau in einer gewalttätigen und übertrieben männlich orientierten Welt ist eines der großen Hindernisse für eine positive Entwicklung des Menschen. Frauen neigen eher dazu, das Leben zu schützen als es zu zerstören. Es ist an der Zeit, die Frauen, Hüterinnen des Lebendigen, zu ehren und das weibliche Prinzip, das in jedem von uns existiert, zu achten.

Ökologischer Landbau, die notwendige Alternative

Von allen menschlichen Handlungen ist die Landwirtschaft die unentbehrlichste, weil der Mensch nicht ohne Nahrung überleben kann. Der ökologische Landbau, zugleich Lebensethik und landwirtschaftliche Technik, ermöglicht die Wiedererlangung der Autonomie der Bevölkerung, Sicherheit und Gesundheit. Er regeneriert und bewahrt das uns alle ernährende Kulturgut.

Erde und Humanismus als untrennbare Einheit

Von der Erde, dem Gut der gesamten Menschheit, hängt unser Leben und Überleben ab. Von einem aktiven Humanismus inspiriert fördern wir ein bewusstes Engagement im Sinne des Respekts aller Lebensformen und des Wohlergehens und Entfaltens aller Menschen. In der Schönheit, Genügsamkeit, Ausgeglichenheit und Dankbarkeit, im Mitgefühl und in der Solidarität sehen wir die notwendigen Werte für eine leb-bare Welt.

Regionale Organisation der Wirtschaft

Für die Erfüllung der legitimen Grundbedürfnisse der Bevölkerung ist es von absoluter Notwendigkeit, lokal zu produzieren und zu konsumieren. Ohne auf komplementären Austausch zu verzichten werden die Regionen zu autonomen Nährböden, die selbst ihre lokalen Ressourcen verwerten und pflegen. Eine menschenangemessene Landwirtschaft, Handwerk, Kleinhandel usw. müssen rehabilitiert werden, damit möglichst viele Bürger wieder zu Wirtschaftsakteuren werden können.


Eine andere Erziehung


Wir wünschen uns aus tiefer Einsicht und von ganzem Herzen eine Erziehung, die sich nicht auf die Angst vor dem Misserfolg, sondern auf die Lust am Lernen begründet. Eine Erziehung, die das „Jeder für sich“ abschafft und auf Solidarität und Miteinander setzt. Die die Talente des einzelnen in den Dienst der Allgemeinheit stellt. Eine Erziehung, die ein Gleichgewicht schafft zwischen der Öffnung des Geistes für abstrakte Kenntnisse und für die Intelligenz der Hände und der konkreten Kreativität. Die das Kind mit der Natur verbindet, der es sein Leben verdankt und die es für die Schönheit und die Verantwortung gegenüber dem Lebendigen sensibilisiert. Denn das alles ist wesentlich für die Erhebung des menschlichen Gewissens.

Übersetzung aus dem Französischen: Kerstin Chavent (https://www.pierrerabhi.org)