Wasser: Quell des
Lebens, Symbol der Reinheit und kontinuierlichen Erneuerung. Das einzige
natürliche Element unseres Planeten, das zugleich in fester, flüssiger und
gasförmiger Form existiert. Entsprechend des Drucks, der Temperaturen und der
Informationen, die es trägt, verändert es sich ständig und erscheint als
Quelle, Fluss, See, Ozean, Schnee, Eis, Tau, Nebel, Wolken,... Durch den
dunklen Stein gelangt es an die Oberfläche, wird zur Quelle und tritt immer
wieder aufs Neue in den Kreislauf ein.
Hier geht es um
die Reise von Ondine, ein Geschöpf des Wassers. Die Nymphe, so erzählt die
Legende, liebt es, ihr Haar am Rande eines Brunnens zu kämmen und in klaren Wasserfällen,
Seen und Flüssen zu baden. Wie der Mensch besteht sie vor allem aus Wasser und
wie der Mensch kennt sie Gefühle. Und wie das Wasser, ihr Element, muss sie
immer wieder durch dunkle, steinige Schichten hindurch, um sich zu reinigen und
dann erneut dem Licht entgegen zu sprudeln.
Aus Erfahrung weiß
Ondine, dass es keine positiven und
keine negativen Gefühle gibt. Alle
Gefühle sind, was sie sind, weder gut noch schlecht. Immer dann, wenn sie in
sich Widerstand spürt, dann weiß sie, dass etwas Schweres in ihr bereit ist, losgelassen
zu werden. Ondine gibt ihren Gefühlen Namen und empfängt sie als Gäste. Sie begrüßt
sie, ohne sich an ihnen festzuklammern, und lässt sie weiter ziehen, um den nächsten
Gast zu empfangen. Jeder ist willkommen.
Denn Ondine hat
erfahren, dass es nichts nützt, einem Gast die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Er
würde durch die Hintertür hineinkommen und von ihr unbemerkt alles
durcheinander bringen. Nur wenn sie alle empfängt, die vorbeikommen, wenn sie ihnen
einen Moment zuhört und die Nachricht annimmt, die ihr überbracht wird, hat sie
ihre Ruhe.
Wir, Brüder und Schwestern
von Ondine, können es so machen wie sie. Wir können mit ihr auf die Reise
gehen, durch die verschiedenen Schichten unseres Wesens hindurch. Wir können mit
ihr zusammen Freude spüren, Wut, Traurigkeit, Angst, um immer wieder in unser
ursprüngliches Empfinden zurück zu finden: die Unbeschwertheit. Lassen wir uns von
ihr mitnehmen und ent-decken wir, was ans Licht strebt. Befreien wir uns aus
dem engen Gefängnis unserer inneren Widerstände und werden wir ganz offen und
weit.
Im dunklen Herzen
des Waldes, verborgen vor dem Licht der Sonne, entspringt eine Quelle. Geduldig
hat das Wasser die felsigen Schichten durchquert, sich an Steinen, Kieseln und
Sand gerieben und lange in den unterirdischen Seen geruht, bis es endlich den
Weg an die Oberfläche gefunden hat. Unaufhörlich sprudelt es in das feuchte Grün
hinaus, das Boden und Felsen bedeckt. Noch hat kein Sonnenstrahl das frische,
reine Element gestreift. Noch ist es frei von Erinnerung. Es nährt sich allein
von dem Wissen, aus der Verbindung zwischen Erde und Himmel geboren zu sein.
Tropfen für Tropfen quillt es aus dem Schoss der Erde. Noch hat es seine
Konturen und Formen nicht erfahren, noch weiß es nichts von dem, was es
erwartet.
Ondine sitzt auf
ihrem Felsen und spielt mit der neu geborenen Frische. Ihr Herz schlägt im
Rhythmus der Ausgelassenheit des aufquellenden Lebens. Ungehindert durchströmt
ihr Atem ihre Lungen und breitet sich in ihrem Körper aus. In ihrem Blut pulsiert
das Leben durch ihre Adern und erfüllt sie mit Vertrauen und Leichtigkeit. Sie
ist geborgen, getragen von dem Boden unter ihrem Körper und eingehüllt von dem
dichten grünen Blattwerk um sie herum.
Ich sehe euch, Felsen, Bäume, Farne und Moos. Ich
spüre euch nah bei mir und fühle eure sanfte, üppige Frische. Insekten und
Vögel, ich höre euer Summen und euer Singen. Ich bin hier, Teil dieses pulsierenden
Lebens! Ich darf sein! Meine Neugierde ist ohne Grenzen. Ich bin bereit, leicht
wie ein Blatt und beweglich wie ein Halm. Die Welt ist groß! Sie ist mein! Für
mich singen die Vögel, für mich streift der Wind durch das Blattwerk, für mich
erblühen die Blumen in ihren schönsten Kleidern und Düften! Ich schwinge mich
empor und spüre keine Grenzen. Mein Herz ist weit geöffnet für alles, was meine Sinne erfassen können.
Mit rosigen Wangen
und glänzenden Augen folgt Ondine dem Lauf des jungen Baches und durchschreitet
den Wald bis an seine Grenzen. Das dichte Blattwerk erhellt sich und schon
sieht sie den Himmel durch die Baumkronen hindurch schimmern. Ein paar Schritte
noch, und sie befindet sich auf einer weiten Lichtung. Das Summen der Insekten
wird lauter, Düfte, Farben und Formen verändern sich. Aus dem gedämpften
Halbdunkel ist Klarheit geworden, Flimmern und Funkeln. Mit nackten Füssen
streift Ondine durch das Gras und hüpft in freudiger Ausgelassenheit. Sie lacht, breitet die Arme aus und tanzt mit
allem, was ihre Haut berührt. Sie lässt sich von den Strahlen der Sonne
streicheln, die sie eben erst kennengelernt hat, und spürt die Ektase der funkelnden
Lebendigkeit. Unwiderstehlich zieht es sie weiter. Immer leichter fühlt sie
sich, bis ihre Arme zu Flügeln werden, sie sich in den Himmel erhebt und mit
seinem Blau vermählt.
...
Nach der geborgenen
Behaglichkeit der Welt von unten macht Ondine Bekanntschaft mit der
unbegrenzten Welt von oben. Immer leichter wird ihr Körper, immer subtiler.
Doch ihr Aufstieg gibt ihr nicht nur das Gefühl von Freiheit und Stolz. Er
macht sie auch unruhig. Das Gewohnte liegt hinter ihr. Vor ihr entfaltet sich
das Unbekannte. Wo vorher Ordnung war, ist nun Zweifel. Eine unbekannte
Stimmung ergreift sie. Je näher sie der Sonne kommt, umso stärker spürt sie die
Hitze um sich herum und in ihrem Körper. Wo sie vorher wohliges Blaugrün umgab,
flimmert jetzt elektrisches Gelb. Sie fühlt die Spannung, als träten grobe
Wesen ihr auf den Füßen herum. Von allen Seiten schubst und schiebt es. Niemand
nimmt sie wahr, niemand respektiert sie. Sie hat nur einen Wunsch: Fort! Doch
sie weiß nicht wohin. Sie findet keinen Platz. Ihre Muskeln und Nerven ziehen
sich zusammen und ihr ebenmäßiges Gesicht bekommt einen angespannten Ausdruck.
Ich fühle mich durcheinander, erdrückt. Ein
schwerer Deckel lastet auf mir und ich kann nicht mehr atmen. Ich ersticke! Ich
spüre die Spannung in mir aufsteigen. Sie reißt mich mit wie ein mächtiger
Wirbel. Ich spüre Hitze in meinem Bauch, meiner Brust, meinem Hals. Ich brauche
Platz! Ich will, dass man mich respektiert! Laut schreit die Ohnmacht in mir,
doch kein Ton kommt über meine Lippen. Mein Mund bleibt verschlossen und bringt
nicht nach außen, was in mir geschieht. In meinen Schläfen pocht das Blut. Ich
sehe rot! Ich explodiere!
Das Ventil öffnet
sich und das Gewitter bricht los. Das Eingesperrte platzt heraus und befreit
sich wie aus zu eng gewordenen Kleidern. Die Spannung entlädt sich und die
aufgeladene Luft bahnt sich ihre Weg: Donner! Grollen! Dröhnen! Zischen! Bis in
die verstecktesten Ecken dringt die Explosion. Wütend faucht das Feuer und
bringt ans Licht, was vorher unter verschlossenen Deckeln kochte. Es entzündet
alles, was sich ihm in den Weg stellt, mit gleichzeitig zerstörerischer und
reinigender Kraft. Schreie, Tränen, und endlich Worte. Ondine spricht. Was sich
angestaut hat, bricht aus ihr heraus. Über die Worte gelangt der Schmerz nach
außen. Langsam erlöschen die Flammen der Wut.
...
Das Gewitter hat
eine neue Ordnung geschaffen. Ondine fühlt sich nicht mehr beengt. Sie hat ihr
Kleid gewechselt und ist erneut Tropfen geworden. Doch ihre Form hat sich
verändert. Sie ist nicht mehr der unerfahrene, frische, leichte Tropfen, der fröhlich
mit den Strahlen der Sonne tanzt. Nach der Explosion fühlt sie sich matt,
niedergeschlagen. Ihre Konturen sind rund, ihr Körper schwer. Sie fühlt sich
verlassen, orientierungslos. Wo ist all das Vertraute geblieben? Wo sind die
anderen? Sie kann niemanden erkennen durch den immer dichter werdenden
Schleier, der sie umgibt. Sie fühlt sich wie in einer Blase, abgetrennt vom
Rest der Welt. Allein. Immer langsamer werden ihre Bewegungen. Bedrückt und
einsam taucht sie in ein Meer aus Kummer.
Wo ist das Licht, das mich einst angezogen hat?
Ich sehe es nicht mehr! Nichts durchdringt mich mehr. Nichts berührt mich, bis
auf der beißende Schmerz des Verlusts. Ich spüre Leere in mir, Mangel. Eine
enge Klammer umfasst mein Herz. Immer zögerlicher wird sein unsicherer Rhythmus.
Wohin geht es jetzt? Was tun? Wozu? Da, wo bis vor kurzem das Leben unendlich
und unbegrenzt schien, sehe ich nun Mauern. Wo ich Überfluss kostete, ist Leere.
Desillusion. Die Erinnerung an die glückliche Zeit macht meinen Schmerz noch
schlimmer. Es ist aus. Vorbei! Was ich liebte, ist nicht mehr und kommt nicht
mehr zurück.
Auf sich selbst
zurückgeworfen, ohne Kraft und Hoffnung, konfrontiert sich Ondine mit ihrer
Leere. Aus den Tiefen ihres Wesens steigt ein Schluchzen auf und bahnt sich
seinen Weg. Noch ist ihre Kehle zugeschnürt. Die Augen brennen. Unnachgiebig
ziehen sie ihre schweren Formen nach unten, bis sich schließlich die Schleusen
öffnen.
...
Ein Geräusch
schreckt sie auf. Ist sie nicht allein? Sind nicht alle fort? Die Konturen, die
sich um sie herum abzeichnen, ähneln ihr selbst. Alle sind sie schwer und rund.
Und alle scheinen sich darauf vorzubereiten, nach unten zu stürzen. Ondine wird
von Schwindel erfasst. Unter ihrem zitternden Körper erahnt sie, weit entfernt,
die Erde. Von Panik ergriffen sucht sie nach etwas, woran sie sich klammern
kann. Doch sie findet nichts. Es gibt nichts. Vergeblich sucht sie Halt,
während ihr Körper sich dem Abgrund nähert. In diesem Augenblick beklagt sie nicht
nur ihre verlorene Fröhlichkeit. Auch Wut und Trauer erscheinen ihr wie Oasen
in der Wüste. Alles, nur nicht haltlos ins Leere stürzen!
Ich spüre, wie die Angst mich fasst. Ich kann mich
nicht mehr bewegen! Kein Laut kommt über
meine blutleeren Lippen. Mein Herz hämmert in meinen Schläfen, meine
Handflächen sind von Schweiß bedeckt. Meine Nackenhaare sträuben sich und mein
Atem bleibt in meiner Brust hängen. Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf
einen einzigen Punkt: die Leere unter meinen Füssen. Eine eiskalte Welle erfasst
mich und lässt mich gefrieren. Doch etwas pulsiert. Ich bin nicht tot. Ich bin
noch am Leben. Als ich es endlich wage, an mir herunter zu blicken, erkenne
ich, dass sich um meinen Körper herum kleine Verzweigungen gebildet haben, so
als wäre ich ein Stern.
Ondine erwacht aus
ihrer Starre. Um sich herum erkennt sie unzählige kleine Schneeflocken, so wie
sie. Ein Wunder! Keine Flocke gleich der anderen. Alle sind vollkommen. Alle
sind verschieden. Ondine ist berührt von der Einzigartigkeit und der Vielfalt
um sie herum. Sie fühlt sich als Teil eines Ganzen, das sich langsam in
Bewegung setzt. Endlich lässt sie sich, mit ausgebreiteten Armen und leichtem
Herzen, in den leeren Raum unter sich fallen.
...
Langsam segelt
Ondine nach unten und kommt der Erde immer näher. Nicht in einem abrupten,
grausamen Sturz, sondern im leichten Flug einer Feder. Die explosive Wut, die
schwere Traurigkeit, die lähmende Angst liegen hinter ihr. Ihr Hinabgleiten
wird vom Himmel bewacht und von sanften Winden begleitet. Voller Vertrauen und
mit wachen Sinnen gibt sie sich dem Element der Luft hin. Sie erkennt die weiten
Ebenen und abrupten Bergketten unter sich und den unendlichen Himmel über sich.
Millionen anderer Schneeflocken tanzen in ihrer Nähe, einzigartig und doch miteinander
vereint. Sie weiß es nun: Sie ist nicht allein, niemals!
Ich bin frei! Mein Herz schlägt fröhlich in meiner
Brust und mein Atem breitet sich in jeder einzelnen Zelle meines Körpers aus.
Nichts lastet mehr auf mir, nichts hindert mich daran, meine Flügel
auszubreiten. Ich fliege, und wenn ich nicht mehr fliege, dann weiß ich, dass
mich die Erde wie eine fürsorgende Mutter empfangen wird. Alles ist möglich
zwischen Himmel und Erde. Alles ist mir willkommen, denn alles gibt mir die
Möglichkeit, mich zu erfahren, zu wachsen und meine Flügel immer weiter
auszubreiten.
Ondine tanzt. Mit
geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen folgt sie der Bewegung. Sie tanzt
mit allem, was um sie herum ist, ohne Ausnahme: mit ihren Freuden und Ängsten,
ihrem Kummer und ihren Träumen. Immer besser lernt sie ihre Partner kennen,
immer sensibler wird sie in ihrem Tanz, immer harmonischer werden ihre Bewegungen.
Auf der Tanzfläche des Lebens fliegen Ondines Haare im Wind und durch ihre
Kleider schimmert ein Körper, der von innen heraus zu strahlen scheint. Was es
auch ist: sie lässt es durch sich hindurchziehen. Immer durchlässiger wird sie,
immer transparenter, bis sich schließlich Innen und Außen miteinander verbinden
und jede Grenze aufgehoben ist.
In freier Übersetzung Auszug aus: La feuille qui ne voulait pas tomber de l'arbre, Bod 2018