Montag, 11. November 2019

Die Feder

Der Kampf ist unentschieden. Seit Stunden schlagen sich die beiden Gegner, erbittert, die schmerzverzerrten Gesichter hinter Masken versteckt, die bebende Brust hinter schweren Schildern verborgen. Beine weichen aus und treten zu, Arme holen zum Schlage aus, so weit es die engen Rüstungen zulassen. Schweiß rinnt in Strömen, vermischt sich mit Blut, dringt in den Boden und verwandelt das Schlachtfeld in einen schmierigen Morast.

Wer wird die Schlacht gewinnen? Die Kämpfenden sind geschickte und erfahrene Krieger. Keiner will dem anderen unterlegen sein. Sie werfen einander ihre Spitzen zu und treffen dort, wo es besonders schmerzt. Scharf brennen sich die Verletzungen in die Haut der Gegner. Ein Mal, zwei Mal, zehn Mal scheint der Kampf zu Ende, doch immer wieder treffen neue Schläge und neue Spitzen die empfindliche Haut des anderen.

Was war der Grund der Auseinandersetzung? Niemand erinnert sich mehr daran. Ein Wort vielleicht, eine Geste haben ausgereicht, den anderen zum Täter und sich selbst zum Opfer zu machen. Er war’s! Er hat angefangen, hat beleidigt, missachtet, provoziert. Fehdehandschuhe wurden aufgenommen, Rüstungen angelegt und Waffen ergriffen.

Die zerteilende Hand der Zwietracht, die die Sinne zu täuschen und die Herzen zu verschließen weiß, hält die Gegner eisern umklammert. Sie sehen nicht den Himmel über ihren Köpfen, erkennen nicht die Schaulustigen um sie herum, noch die Strippenzieher im Hintergrund: die eigentlichen Gewinner. Wer auch immer den Kampf für sich entscheiden wird -  die Macht der Arrangeure wird wachsen und sich immer mehr dort ausdehnen, wo Fehde und Streit die Menschen trennen.

„Misstrauet einander!“ rufen die in die Menge, die aus Konflikt Profit zu schlagen wissen. „Glaubt dem anderen nicht! Seht ihr nicht, wie er eure Ehre missachtet und euer Verderben vorantreibt? Wehrt euch! Nehmt die Waffen: Hier!“ Fliegende Händler ziehen durch die gaffende Menge und bieten Heilversprechendes feil. Ihre Börsen füllen sich im Rhythmus der ausgeteilten Schläge, während die Streithähne nichts davon ahnen, dass sie beide für den Suppentopf bestimmt sind.

In dem Moment, als einer der Gegner, das Gesicht von Schmerzen verzerrt und der Körper von unzähligen Wunden gequält, mit letzter Kraft zum finalen Schlag auszuholen sucht, geschieht das Unerwartete. Eine Feder, ein heller Flaum noch, frisch, leicht und eben erst einem schützenden Gefieder entflogen, schwebt in die Kampfszene hinein. Zart wie ein Hauch bahnt sie sich ihren Weg an den um Sieg Ringenden vorbei, kaum spürbar ist ihre Bewegung, als sie durch die aufgeladene Atmosphäre gleitet, bis sie schließlich auf den Grund des Schlachtfeldes niedersinkt, so als setzte sie dem dunklen, von Schweiß und Blut durchtränktem Schlamm ein keckes Krönchen auf.

Ein leises Flirren fährt durch die Menge, setzt sich wellenartig fort und erreicht schließlich auch die Kämpfenden. Kaum merklich ist die Veränderung, so als sei eine andere Tonart angeschlagen worden, bevor eine neue Melodie einsetzt. Bewegungen verlangsamen sich, Arme senken und Blicke erheben sich. Schwer atmend stehen sich die Widersacher einander gegenüber. Zwei Verwundete. Zwei Unverstandene. Zwei, die von dem Wunsch beseelt sind, richtig zu handeln. Zwei, in denen ein Herz schlägt, das sich nach Anerkennung sehnt, nach Verständnis und nach Zärtlichkeit.

...

Der Schauplatz ist leer. Die Menge ging auseinander, als die einstigen Gegner sich die Hände reichten. Jeder der Anwesenden trug das Gefühl nach Hause, Zeuge eines Wunders geworden zu sein. Von allen unbeachtet steckten noch die Strippenzieher ihre Köpfe zusammen, bevor auch sie nach Hause gingen. Allein auf dem Feld bleibt ein zartes, weißes Federkrönchen zurück, bevor es sich vom Wind erfassen lässt und dorthin schwebt, wo es gebraucht wird.