Sonntag, 21. Februar 2016

Unveröffentlichter Leserbrief zum Spezialheft des Spiegel zum Thema Krebs

Ich lese gerade das Heft „Diagnose Krebs – und mein Leben geht weiter“ aus der Reihe Spiegel Wissen. Im Juli 2012 erhielt ich selbst die Diagnose Brustkrebs und fühle mich daher besonders betroffen. Ich begrüße es sehr, dass diesem gesellschaftlich mittlerweile so relevanten Thema ein Spezialheft gewidmet wird, bin jedoch insgesamt von dieser Ausgabe enttäuscht. Für mich ist sie einseitig und nur begrenzt recherchiert. Abgesehen von den Erfahrungsberichten hält das Heft nicht, was es mit dem Titel ankündigt: „Und mein Leben geht weiter“. 

Die Krankheit Krebs wird fast durchgehend mit Kriegsmetaphorik belegt. Begriffe wie „Kämpfen“, „Aggressor“ und „Angriff“ ziehen sich durch das gesamte Heft. Für die Autorin Cinthia Briseno, zu deren beruflicher Orientierung  es keine Angaben gibt, sind Krebszellen gar „winzige Monster“, die „krankhaft wuchern“ und den Organismus hinterhältig angreifen. Der Artikel des Radioonkolgen Martin Bleif wird von einer in keiner Hinsicht begründeten These eingeleitet: Krebs werde „verursacht durch genetische Fehler, oft beeinflusst durch den Lebenswandel. Psychische Faktoren spielen aber keine Rolle“. Mit einem Handschlag werden die Erkenntnisse von verwandten Fachrichtungen wie zum Beispiel der Psychoonkologie hinweggewischt. Leider geht es insgesamt nur drittrangig darum, was  Betroffene tatsächlich selbst tun können, denn im Zentrum stehen vor allem die Fortschritte von Medizin und Wissenschaft. Ich lese wenig Ermutigendes, Inspirierendes und so gut wie nichts, was dem verzweifelten Wunsch der an Krebs erkrankten Ehefrau des Radioonkolgen Bleif, entgegen käme: Krebskranke hungern förmlich danach, nicht nur Objekt einer noch so raffinierten Medizin zu sein, sondern wollen mit dazu beitragen, gesund zu werden. (S. 16)

Wegweisend ist für mich das Zitat des US-Onkologen Siddharta Munkerjee, dessen Buch „Der König aller Krankheiten“  2011 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde: „Das Leben des Krebses ist eine Nachbildung des normalen Lebens unseres Körpers, sein Dasein der pathologische Spiegel unseres eigenen Existierens“. (S. 28) Hier scheint mir Wesentliches gesagt: Der menschliche Körper funktioniert wie jeder lebendige Organismus nach präzisen bio-logischen Gesetzen. Krankheit ist demnach kein „Vertrauensbruch des Körpers“, wie Martin Bleif schreibt. Unser Körper teilt uns auf seine Weise etwas mit. So müssen wir uns die Frage nach dem Sinn von Krankheit gefallen lassen. Was ist ihre Botschaft? Zeigt sie uns, dass wir etwas Wichtiges in unserem Leben vernachlässigt haben? Enthält sie eine Einladung, uns darum zu kümmern? Wenn es uns gelingt, uns den Dingen auf diese Weise anzunähern, ist Krebs kein bösartiger und hinterhältiger Feind mehr. Er wird zu einer Art Gesprächspartner, dem man zuhört, bevor man ihn nach draußen begleitet.  Nach meiner Erfahrung ist also genau das Gegenteil von dem zu tun, was hier beschrieben wird. Nicht gegen den Krebs ankämpfen, sondern ihn als Botschafter annehmen und versuchen, die Information, die er in sich trägt, zu verstehen. Mit dieser Übernahme von Verantwortung für seinen Heilungsprozess kann der Patient seine Würde und Menschlichkeit zurückerhalten. In Ihrem Heft wird die Entfernung deutlich, die uns von diesem Bewusstsein trennt.