Sonntag, 3. Juli 2016

Krebs als Botschaft

Der Krebs ist da. Heimtückisch breitet er sich aus. Wir kämpfen gegen die bösartigen Tumore, als wären sie Aliens, die uns überraschend und hinterrücks aus dem Nichts überfallen. Wir beißen die Zähne zusammen und ziehen in den Krieg, mit uns ein ganzes Heer von Ärzten und Spezialisten mit ihrem Waffenarsenal. Bis zum Letzten bemühen sie sich, das Böse in uns auszurotten, und wenn wir die Schlacht dann doch verlieren, dann haben diejenigen, die mit uns kämpften alles getan, nur wir waren eben zu schwach oder haben einfach Pech gehabt. In der Hoffnung auf Aufschub lassen wir uns vergiften, verstrahlen und amputieren, um schließlich an den Nebenwirkungen der Behandlungen zu sterben, die uns doch eigentlich retten sollten. Unser Immunsystem, das wir für die Heilung so dringend bräuchten, ist komplett zerstört. Doch was hätten wir auch für Alternativen? So versuchen wir, den Gedanken an Krebs und die Bilder von kahlen Schädeln und ausgemergelten Körpern so weit es geht von uns zu schieben. Mit uns hat das nichts zu tun. Schließlich ernähren wir uns so gesund wie möglich, treiben regelmäßig Sport und gehen zur Vorsorge, damit die Krankheit, wenn sie dann doch ausbricht, so früh wie möglich behandelt werden kann. Währenddessen schließt sich der Kreis um uns. Immer mehr sind betroffen. In Zukunft jeder Dritte oder sogar jeder Zweite. Krebs bleibt trotz allen Fortschritts eine der häufigsten Todesursachen in unserer industrialisierten Welt. 

Was tun? Die Daumen drücken und hoffen, dass die Forschung, wenn es uns denn auch trifft, die vielversprochene Wunderwaffe gefunden haben wird? Unseren Körper einer Medizin überantworten, die uns in alle Einzelteile zerlegt, doch das Zusammenspiel von Körper und Geist weitestgehend unberücksichtigt lässt? Anderen die Verantwortung für unser Leben übertragen? Oder innehalten und hingucken, was da eigentlich passiert. Schließlich ist der Mensch ein hochentwickeltes Wesen mit einem Körper, der sich über Jahrmillionen zu einem Wunderwerk entwickelt hat, das nach ganz präzisen bio-logischen Gesetzen funktioniert. Wenn in diesem Körper über Jahre hinweg ein Tumor wächst, dann geschieht das nicht einfach so. Welche Rolle für Krebs verantwortliche Faktoren wie genetische Veranlagung, Umweltverschmutzung, Fehlernährung, Drogenkonsum oder Bewegungsmangel auch spielen mögen - gibt es nicht darüber hinaus etwas, was nichts mit den möglichen materiellen Ursachen zu tun hat, sondern mit Zusammenhängen, die uns als ganzheitliche Wesen in unserer psycho-emotionalen, energetischen und geistigen Dimension betreffen? Geht es bei Krankheit nicht im Grunde um unsere Art zu sein und im Leben zu stehen, um das Verhältnis, das wir zu uns selber haben? 

Was haben wir schon zu verlieren, wenn wir diesem Innen unsere Aufmerksamkeit zuwenden, anstatt die Lösungen weiter im Außen zu suchen? Es geht hier nicht um das Zuweisen von Schuld und das beklemmende Gefühl, sich seine Krankheit womöglich selber eingebrockt zu haben, sondern um die Befreiung aus einer Ohnmacht, die unser Handeln lähmt und uns zu hilflosen Opfern des Geschehens macht. Machen wir uns mit unserem Körper ein Stück vertrauter. Wir wissen zum Beispiel, dass er empfindlich auf Stresssituationen reagiert. Es gibt eine direkte Verbindung zwischen unseren Emotionen und bestimmten Pathologien: Depressionen, Magengeschwüre, Rückenleiden, Herz-Kreislaufprobleme, ... Krebs? Wenn wir uns einen Moment in Ruhe hinsetzen und in uns hinein spüren, dann fühlen wir vielleicht unseren Herzschlag, unseren Atem, den Kontakt mit dem Boden. Doch spüren wir auch unsere Nieren, unseren Magen oder unsere Bauchspeicheldrüse? Spätestens hier endet unsere Wahrnehmung - es sei denn, es gibt ein Problem. Das spüren wir in Form von Anspannung, Müdigkeit, Pulsieren, Schmerz. Wie sollte uns unser Körper auch sonst mitteilen, dass etwas nicht in Ordnung ist? Schließlich ist das Symptom seine ganz eigene Art, mit uns zu kommunizieren. Damit bringt er zum Ausdruck, dass es a) ein Problem gibt, was b) gerade repariert wird. Meistens jedoch glauben wir, dass unser Körper uns mit Krankheit ärgern oder strafen will. Wir halten das Symptom für überflüssig. Es muss ruhig gestellt werden. Die moderne Medizin erlaubt uns heute, einfach den Stecker zu ziehen. Wir nehmen dann das blinkende Licht nicht mehr wahr. Das Problem haben wir damit allerdings nicht gelöst.

Die Folgen eines solchen Umgangs mit Krankheit sind verheerend. Wagen wir es also, in gewisser Weise den Stecker drinnen und die Verbindung bestehen zu lassen und fragen uns, was uns unser Körper mit dem Symptom sagen will, selbst wenn es Tumor heißt. Carl Gustav Jung sagte, dass nicht wir unsere Krankheiten heilen, sondern unsere Krankheiten uns. Was spricht dagegen, nicht sofort mit Waffen aufzufahren, die in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges aus der Wiege gehoben wurden, sondern uns zu fragen, was vielleicht in unserem Leben nicht stimmt? Leben wir so, wie es uns entspricht? Respektieren wir unsere Bedürfnisse und Wünsche? Fühlen wir uns in dieser Welt an unserem Platz? Was hält uns wirklich am Leben? Auf diese Fragen finden wir sicher keine schnelle Antwort. Und vielleicht brauchen wir dazu Hilfe von Menschen, die uns nahe stehen und von Therapeuten, die uns als ganze Wesen begreifen. Wir werden nicht in der Isolation gesund – doch niemand anders als wir selber kann die Fragen beantworten, vor denen wir in Krisensituationen stehen: Was treibt mich an? Was gibt mir die Lust, in diesem Körper, an diesem Ort, zu dieser Zeit zu leben? Was be-geistert mich: Was erfüllt mich mit Geist, mit Atem, mit Leben? 

Krebs kann ein Hinweis darauf sein, dass in uns eine Leere entstanden ist, ein Raum, der uns entglitten ist, in dem wir uns nicht orientieren können. Wir wissen nicht mehr, in welche Richtung es in unserem Leben gehen soll. So wurde die in uns entstandene Leere mit etwas anderem gefüllt, denn: Die Natur lässt das Leere nicht zu, so die zum Aphorismus gewordene Aussage des Aristoteles. Der normale Kopierprozess bei der Zellteilung wurde ausgehebelt und anstatt in der herkömmlichen Ordnung zu bleiben, haben einzelne Zellen begonnen, sich unkontrolliert in alle möglichen Richtungen auszubreiten. Sie haben die Orientierung verloren – so wie wir in unserm Leben? Krebszellen werden zur Gefahr für den Körper, indem sie nicht der Apoptose folgen, dem natürlichen Selbstzerstörungsprogramm der gesunden Zellen. Sie sind damit in gewisser Weise unsterblich. Sie wollen leben, und zwar so lange wie möglich, auch wenn sie dabei letztlich ihren Gastgeber zerstören. So wie wir unseren Planeten? Können wir uns vorstellen, dass Krebs im Grunde ein Ruf des Körpers nach mehr Leben ist? Dass er unser orientierungsloses Umherirren in einer Welt reflektiert, die uns mehr und mehr entgleitet? Krankheit als ein Versuch also, unserem Leben eine neue Orientierung, einen neuen Sinn zu geben? Eine Aufforderung, authentischer zu leben und es zu wagen, ehrlicher zu sein, näher bei uns und bei dem, was uns Leben gibt? Eine Einladung, uns selber so zu nehmen wie wir sind, mit allen unseren Schwächen, Empfindlichkeiten und Grenzen, und nicht auf andere zu projizieren, was wir an uns nicht akzeptieren können? Eine Ermutigung, nicht anders sein zu wollen, nicht uns ändern zu wollen, sondern unsere Haltung zu dem, was ist?

Wenn wir unser Fühlen und Denken, unser Sprechen und Handeln in Einklang bringen, dann bringen wir unseren Körper erneut ins Gleichgewicht und ermöglichen den Heilprozess, denn ein gesunder Organismus ist ein Organismus, in dem Harmonie herrscht. Die Blockaden sind aufgehoben, die Energie fließt frei und ungehindert. Keine Medizin kann das für uns übernehmen. Doch sie kann uns dabei helfen, die natürlichen Selbstheilungsprozesse des Körpers zu unterstützen – so, wie sie es immer getan hat, bis sie von der evidenzbasierten Medizin der Industrienationen abgelöst wurde. Alle Chancen stehen auf unserer Seite, wenn wir beginnen, komplementär zu denken und zu handeln und eigenverantwortlich moderne und ganzheitliche Heilmethoden im Dienste des Lebens einsetzen. Diese Verantwortung können wir jetzt sofort übernehmen, ob krank oder gesund. Wir können jetzt beschließen, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind. Wir können sie uns ansehen und sie als das wahr-nehmen, was sie sind: Botschaften. Hören wir hin. Sehen wir hin. Schicken wir Licht in das, was uns ängstigt und nehmen wir ihm so die Macht. Im Lichte des Bewusstwerdens schließlich lösen sich unsere Dämonen auf, wie auch immer sie sich darstellen. Alles Lebendige strebt ja danach, wahrgenommen zu werden, bevor es sich verändern kann. Unsere Körper zeigen uns den Weg, wie wir nicht nur uns selber heilen, sondern auch die Welt, in der wir leben. Denn beide sind untrennbar miteinander verbunden.

Erschienen in der E-Ausgabe der Zeitschrift Focus am 8.Juli 2016