Donnerstag, 7. Juli 2016

Trügerische Sicherheit

Wir leben in bequemer Sicherheit. Die meisten von uns haben einen Job, ein Dach über dem Kopf und monatlich neue Kleidung am wohlgenährten Leib, den wir nur mit Mühe in Form halten. Maschinen oder Ausländer erledigen unsere unbequeme Arbeit. Unser Besitz, unsere Haustiere und unsere Leben sind bis über unseren Tod hinaus für alle Eventualitäten abgesichert. Eigentlich kann uns nichts mehr passieren. Wir gehören zu den paar Prozent der Menschen, die sich keine Sorgen machen müssen, woher sie sauberes Trinkwasser oder etwas zu essen bekommen oder wie sie einfach nur überleben. Uns geht es gut. 

Das haben wir uns auch verdient. Unser Wohlstand steht uns zu. Wir gehören zu einer der reichsten Nationen des Planeten, können uns mehrmals im Jahr Urlaub leisten, weil die  Bewohner unserer günstigen Ferienziele sich nichts leisten können und werden im Durchschnitt über 80 Jahre alt. Und doch sind wir nicht besonders entspannt. Trotz bester Vorsorge machen wir uns Sorgen. Viele von uns fühlen sich gestresst, unter Druck, ausgebrannt, leer. Unsere Feierabende, Wochenenden und Urlaube sind kurze Verschnaufpausen, währen der wir einen Moment lang den Kopf über Wasser halten, bevor wir wieder im Alltag untertauchen. Um bei der Stange zu bleiben, kaufen wir ein: Ansehen, Trost, Sicherheit, Wärme, Wohlgefühl, Entspannung, Energie, Vergnügen, ... Damit nähren wir vor allem die Anbieter, denn lange hält die Befriedigung nicht vor. Schnell brauchen wir Nachschub. Und um uns den leisten zu können, arbeiten wir mehr und setzen uns noch mehr Druck – bis wir schließlich so leer sind, dass wir eigentlich nur noch Ruhe haben wollen. 

Depressionen sind bei uns eine Volkskrankheit - und ein lukratives Geschäft. Wie alle anderen sogenannten Zivilisationskrankheiten auch. Ist das der Preis für unseren Wohlstand? Sollten wir denn die Errungenschaften unserer Gesellschaft in Zweifel ziehen? Zugang zu Eigentum, gefüllte Einkaufsregale, geregelte Arbeitszeiten und Sozialleistungen, Alters- und Krankenversorgung, das Recht auf Bildung, Fernsehen, .... all die Privilegien, von denen wir heute profitieren und die wir nicht so recht mit jenen teilen wollen, die am anderen Ende der Welt alles verloren haben und nun vor unserer Tür stehen. Es fällt uns schwer abzugeben von unserem Kuchen. Wer von uns kann sich schon wirklich vorstellen, was es heißt, nur das zu besitzen, was man am Leibe trägt? Wer kennt diese tiefe Verzweiflung des Ausgeschlossenseins, des Ignoriertwerdens und der Zerrissenheit? Den Schmerz um das Verlorene und die Angst vor dem Absturz, dem Nichts, der Leere? 

Verzweiflung, Schmerz, Angst – das kennen wir doch. Wir kennen die Angst vor der Einsamkeit und den Schmerz, wenn wir uns nicht respektiert und anerkannt fühlen. Wir spüren die Verzweiflung, wenn uns die Dinge zu entgleiten scheinen. Auch wenn wir sie auf verschiedene Weise erleben – hierin sind wir uns alle gleich. Doch anstatt unseresgleichen in die Augen zu sehen und die Verbindung mit ihnen zu spüren, lassen wir sie draußen vor der Tür. Erinnern sie uns zu sehr an unsere eigenen Ängste? Denn alle die Sicherheiten, hinter denen wir uns verbarrikadieren, schützen uns nicht vor dem Ungewissen. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt und wann es vorbei sein wird. Doch wir schieben diese Fragen so weit es geht von uns und versuchen, uns noch eine Weile zu amüsieren. Vielleicht sehen wir, wie es um unsere Welt steht, wollen jedoch noch bis zum Letzten auskosten, was uns angeboten wird, so wie Kinder kurz vorm Zubettgehen. All die Vertriebenen, Gequälten, Hungernden, Ausgebeuteten, Unterdrückten, Ermordeten, Kranken, Sterbenden stören uns dabei, noch ein wenig möglichst unbeschwert weiter zu spielen. Vielleicht ist das alles ja auch gar nicht so schlimm. Und wenn wir dann morgen aufwachen, ist die Welt vielleicht ja wieder in Ordnung.

Je stärker wir versuchen, die Probleme aus unserem Leben auszuschließen, desto grösser werden sie und desto mehr werden sie sich vor uns auftürmen, bis wir sie endlich wahr nehmen. Sie existieren nicht nur im Fernsehen, am anderen Ende der Stadt oder zumindest vor den Pforten unseres Gartenzauns. Sie sind in unseren Häusern, in unseren Beziehungen, in unseren Körpern. Sie sind untrennbar mit uns und unserem Leben verbunden. Wir haben direkt mit ihnen zu tun. Das zeigt uns unsere Welt heute. Und genau hierin liegt unsere größte Chance: Wenn wir die Verbundenheit begreifen, wenn wir es annehmen und uns eingestehen ja, damit habe ich auch zu tun, dann können die Probleme beginnen, sich aufzulösen.