Donnerstag, 17. November 2016

Anthropozän: Eintritt in ein neues Zeitalter

Anthropozän: Menschenzeitalter – so lautet der Namensvorschlag für eine neue geochronologische Epoche, der gerade diskutiert wird. Wann fing es an, dass der Mensch unumkehrbare Spuren auf dem Planeten hinterlassen hat? In der Mitte des letzten Jahrhunderts, oder bereits sehr viel früher? Fakt ist: Artensterben, Abschmelzen der Gletscher, Anstieg der Meeresspiegel, Ozonloch und die zahlreichen weiteren Folgen des menschlichen Einflusses auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde bedrohen mittlerweile auch unsere eigene Existenz. Ist der Anfang der neuen Epoche gleichzeitig ihr Ende? Haben wir uns selber in die Irre geführt? Wie könnte eine Neuorientierung aussehen? Ist es eine Aufforderung zur Umkehr? In jedem Fall aber zum Hinsehen, denn wenn wir uns nicht darüber klar werden, was wir geschaffen haben, werden wir es auch nicht ändern können.

Wir beuten das Lebendige aus, anstatt uns an ihm zu inspirieren. Wir lassen es zu, dass einige wenige vom Reichtum der Welt profitieren, während sich der Rest die Krümel teilt. Wachstum und Ausbeutung ohne Grenzen in einem System, in dem alles zur Ressource wird. Nicht das Bedürfnis bestimmt das Konsumierbare, sondern unbegrenzte Lust. Immer wieder lassen wir uns von neuen Gadgets verführen und geben dabei die Freiheiten, die die Generation vor uns mühsam erkämpft haben, im Namen von mehr Sicherheit und mehr Bequemlichkeit nach und nach wieder ab. Während wir noch an die Statistiken glauben, nach denen unsere Lebenserwartung weiter steigt, sterben immer mehr von uns an den Folgen einer zerstörten Umwelt und den Vergiftungen durch Schadstoffe, vor denen uns die vielen neuen Gesetze und Verordnungen doch eigentlich schützen sollen. Es entstehen immer neue Zivilisationskrankheiten, die die Medizin zwar behandeln, aber nicht heilen kann. Nach Herz-und Kreislauferkrankungen sind heute Krebs und iatrogene Krankheiten, also Krankheiten, die die Medizin selber hervorbringt, die dritthäufigste Todesursache. 

Ist das der Preis, den wir für unseren Fortschritt zahlen? Wer könnte dem Einhalt gebieten? Gibt es wissenschaftliche Lösungen für die gigantischen Probleme des neuen Zeitalters? Welche Rolle kann die Politik spielen? Hat sie sich nicht in zu große Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Interessen eben jener multinationalen Unternehmen gebracht, die unseren Planeten verwüsten, als dass sie noch klar und im Sinne des allgemeinen Wohls handeln könnte? Es gibt ja Motoren, die mit Wasser laufen, und Möglichkeiten, selbst auf dem trockensten Boden genug Nahrung für alle zu produzieren. Es gibt natürliche Methoden ohne schädliche Nebenwirkungen, um die Krankheiten unserer Zeit zu verhindern, zu lindern und zu heilen – doch sie werden nicht kommerzialisiert. Zu gut verdienen einige wenige an dem Leid vieler, als dass sich daran von oben etwas ändern könnte.

Diesen Realitäten müssen wir uns stellen, wenn wir unserem Leben eine neue Richtung geben wollen. Wir können nicht an dem gigantischen Ungleichgewicht vorbeischauen, an dessen Entstehen wir alle beteiligt sind. Alle unsere Bemühungen werden Trostpflaster bleiben, wenn wir nicht erkennen, dass sich grundsätzlich etwas verändern muss. Diese Veränderung betrifft nicht in erster Linie unser Handeln, sondern unsere Art zu sein. Wir stehen alle vor der Herausforderung, in uns selbst das Dunkel zu durchdringen, das die Zerstörung des Lebens um uns herum erst ermöglicht hat. Ist nicht das, was wir in der äußeren Welt geschaffen haben, der Spiegel unseres inneren Ungleichgewichts? Wie können wir Frieden und Harmonie im Außen schaffen, wenn wir in uns zerrissen sind? Wie können wir Wüsten begrünen, wenn wir innerlich vertrocknet sind? Wie können wir erwarten, von anderen anerkannt und respektiert zu werden, wenn wir von uns selbst kaum mehr wissen als das, was in den Profilbeschreibungen unserer sozialen Netzwerke über uns steht? Nur wenn wir uns selbst erkennen und Zugang zu dem unverfälschten Wesen finden, das wir sind, dann wird sich auch in der Welt um uns herum etwas verändern können. Wenn wir nicht weiter das nähren, als das wir erscheinen wollen, sondern unser authentisches Sein, wenn wir in uns Frieden finden, dann kann die Zerstörung ein Ende finden.

Der Paradigmenwechsel, vor dem wir uns heute befinden, führt über das Bewusstsein jedes einzelnen von uns. Wir begreifen, dass wir im Außen das schaffen, was wir im Innen sind. Nicht die anderen tragen die Schuld an der Situation, in der wir uns heute befinden und nicht sie haben sich um die Lösung zu kümmern. Wir sind jetzt alle gefragt, jeder einzelne von uns. Wir tragen alle die Verantwortung für das, was wir gemeinsam geschaffen haben. Solange wir im Polarisieren und Zertrennen verhaftet bleiben, solange werden sich unsere Probleme weiter verschärfen. Erst wenn wir beginnen, zusammenhängend zu denken, können sie sich auflösen. Wir sind alle miteinander verbunden. Das zeigt uns unsere Welt heute. Die Probleme am anderen Ende der Welt betreffen uns direkt und wir können nicht hier einen Knoten lösen, an dem wir dort ziehen. Die moderne Physik zeigt, dass unser Universum einem unvorstellbar komplexen Hologramm gleicht, in dem nichts getrennt vom Ganzen existiert. Wenn sich ein Teil bewegt, hat das Konsequenzen für das Gesamte.

Vielleicht liegt genau hier unsere größte Chance. Wenn wir die gewaltige Herausforderung annehmen, das Einzelne im Gesamten und das Gesamte im Einzelnen zu erkennen, dann können wir es schaffen, den Dingen eine neue Richtung zu geben und unsere Welt zum Wohl aller gestalten. Im Grunde wollen wir das ja alle, unabhängig von Alter, Kultur und Umfeld. Wir spüren es, wenn wir uns einen kleinen Moment Zeit nehmen und in uns hinein horchen. Sind es dann Begriffe wie Macht, Geld, Besitz und Konsum, die uns in den Sinn kommen? Oder sind es Gedanken an Teilen, Gemeinsamkeit, Heiterkeit, Wärme, Liebe, Begeisterung? Wer sehnt sich nicht nach Anerkennung und Geborgenheit? Wer will sich nicht nützlich fühlen in der Gemeinschaft, in der er lebt? Es ist ja nur die Nichterfüllung und Fehlorientierung dieser Bedürfnisse, die uns abstumpfen lassen oder bereit für Gewalt machen. 

Es kann sich jetzt sofort etwas ändern. Wir können in diesem Augenblick damit beginnen, unsere inneren Landschaften zu pflegen und neue Geschichte zu schreiben. Es geht in ihr nicht um Schuld für Vergangenes, sondern um Verantwortung für das Gegenwärtige. Es ist eine Abkehr von den alten Geschichten um Opfer, Täter und Retter. Sie waren etwas für Kinder. Heute haben wir die Möglichkeit, erwachsen zu werden, indem wir neben unserem Sein auch unser Bewusstsein pflegen. In der Minute, in der wir uns dafür entscheiden, wird die Welt eine andere sein.